25.05.20 Interview der Woche
Der 27-jährige Jean-Pierre Nsame führt mit 18 Treffern die Torschützenliste der Super League mit klarem Vorsprung an. Der französisch-kamerunische Doppelbürger, für den Cristiano Ronaldo heute noch ein Vorbild ist, hat aber nicht nur als Stürmer grosse Fähigkeiten.

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"Ich bin wie ein Europäer aus Afrika"


Jean-Pierre, wer ist gegenwärtig der beste Stürmer der Welt?
Für mich sind es zwei: Robert Lewandowski vom FC Bayern und Karim Benzema von Real Madrid. Lewandowski überzeugt seit Jahren mit unheimlicher Konstanz, was die Skorerpunkte angeht, Benzema ist ein extrem vielseitiger Stürmer. Er ist Torjäger und Vorbereiter in einem.

Was ist mit Kylian Mbappé?
Natürlich hat auch er beeindruckende Qualitäten, und er ist mit Frankreich Weltmeister geworden. Aber er ist noch jung und muss über längere Zeit überragende Leistungen auf höchstem Niveau zeigen. Gelingt ihm das, gehört er zweifellos auch zu den Besten.

Wer sind denn die Besten überhaupt?
Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Sie stehen über allen anderen, die beiden bilden eine eigene Kategorie. Seit Jahren brillieren sie mit unfassbaren Statistiken, da kann niemand mithalten. Sie sind Glücksfälle für den Fussball. Messi ist zweifellos ein Genie. Aber für mich ist Cristiano Ronaldo die Nummer 1. Ihn bewunderte ich schon als Kind. Ich verfolgte seinen Weg sehr genau, seine Entwicklung, seine hochprofessionelle Einstellung zum Beruf. Für meinen Stiefbruder war Ricardo Quaresma das Idol, für mich war es Cristiano Ronaldo.

Du bist gebürtiger Kameruner. Also könnte für Dich auch Dein Landsmann Roger Milla ein Stürmer gewesen sein, der Dich inspiriert hat.
Ich habe ihn leider nie live spielen sehen, aber natürlich habe ich Bilder gesehen, unter anderem von der WM 1990 in Italien, und ich habe viel gehört über ihn. Er ist in der Geschichte von Kameruns Fussball ein ganz Grosser. Und dann haben wir auch noch Samuel Eto’o. Aber wenn es darum geht, einen der Grössten des afrikanischen Kontinents zu nennen, sage ich: Didier Drogba.

Wieso?
Zum einen, weil er mit Chelsea eine Reihe verschiedener Titel geholt hat, darunter die Champions League 2012. Und zum anderen, weil er ein demütiger Mensch ist. Er sorgt nicht für Schlagzeilen neben dem Platz, er ist nicht jemand, der sich in der Öffentlichkeit zu allen möglichen Themen äussern muss. Für mich ist er mit seinem Auftreten ein wahrer Champion.


Eine typische Nsame-Geste: Der Torschütze zeigt auf den Vorbereiter und bedankt sich auf diese Weise.

Kommen wir noch einmal auf Roger Milla zurück. Du weisst, was für ein Bild von ihm vor allem ewig haften bleibt.
Natürlich, seine Tänzchen an der Cornerfahne nach einem Tor.

Du bist auch ein talentierter Tänzer.
(lacht) Ich tanze oft, regelmässig in meiner Wohnung, ich liebte es schon immer, mich so zu bewegen. In meiner Jugend tat ich das sogar intensiv. Wir Afrikaner haben das Tanzen im Blut.

Ein guter Sänger bist Du auch, nicht wahr?
Ich singe sehr gerne. Zwar nicht auf dem Niveau von Guillaume Hoarau, aber ich übe fleissig, um besser zu werden.

Wie erklärst Du einem Fremden, der Dich noch nie spielen sah, Deine fussballerischen Fähigkeiten kurz und knapp?
Ich bin ein Teamplayer, der Spass auf dem Platz hat und gerne Treffer erzielt. Ich glaube, dass ich eine gewisse Kaltblütigkeit vor dem gegnerischen Tor habe.

Und was für ein Mensch ist Jean-Pierre Nsame?
Das ist eine schwierige Frage, die eher Leute beantworten müssten, die mich kennengelernt haben. Meine Familie und Freunde würden aber vermutlich sagen, dass ich ein demütiger und netter Mensch bin. Sicher bin ich ein sehr familiärer Typ.

Die Religion ist Dir ebenfalls wichtig.
Ich lese seit zwei Jahren die Bibel, ich habe das Bedürfnis, das regelmässig zu tun. Sie gibt mir Kraft und deutet mir meinen Weg.

Stimmt es, dass es Dir als junger Fussballer an Geduld mangelte?
Mit 18, 19 war es tatsächlich so, dass Geduld nicht eine Stärke von mir war. In diesem Alter denkt man doch, man sei besser als alle anderen, man müsse mehr oder gar ständig spielen. Aber es ging in meiner Karriere nicht nur steil aufwärts. Ich musste automatisch lernen, diese Ungeduld abzulegen.

Gab es Phasen, in denen Du gezweifelt hast?
Nein. Ich wusste stets, was ich wollte, und ich hatte vor nichts Angst. Es hat sich gelohnt, hartnäckig zu bleiben. Ich bin mit YB zweimal Meister geworden, habe in der Champions und Europa League spielen dürfen - ohne Durchhaltewillen und Geduld wäre ich bestimmt nicht so weit gekommen.


Warm-Up im Training: Nsame und Teamkollege Camara.

Du hast 18 Jahre in Frankreich gelebt. Ist das Deine Heimat? Oder ist es doch Kamerun, wo Du zur Welt gekommen bist?
Beide Länder bedeuten mir sehr viel. Als ich sechs Jahre alt war, zog ich mit meinem Vater nach Frankreich und habe die europäische Mentalität angenommen. Meine Wurzeln habe ich aber in Kamerun. Man kann sagen: Ich bin wie ein Europäer aus Afrika. (lacht)

War es immer klar, dass Du für die kamerunische Nationalmannschaft spielst, falls Du einmal nominiert wirst?
Ich habe den kamerunischen und französischen Pass. Es war für mich klar, dass ich dem ersten Aufgebot, das ich erhalte, Folge leiste. Ob das nun vom Verband Kameruns oder Frankreichs kommt. Im September 2017 gab ich für Kamerun mein Debüt (1:1 gegen Nigeria). Ich hoffe, dass mich unser Coach bald wieder aufbieten wird, wenn wieder Länderspiele stattfinden können.

Gab es für Dich in jungen Jahren einen anderen Berufswunsch als Fussballer?
Nein, mein Traum war es, Profi zu werden. Ich erinnere mich, dass ich mir in den Kopf gesetzt hatte, alles dafür zu unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Es gab eigentlich keine Option. Selbst wenn ich wusste, dass es Widerstand und hohe Hürden geben würde. Ich möchte mir nie den Vorwurf machen müssen, zu wenig investiert zu haben, um Grosses zu erreichen. Und ich will mich nicht von Leuten beeinflussen lassen, die vielleicht sagen: Du wirst es nicht schaffen.

Träumtest Du als Kind auch davon, eines Tages viel Geld mit dem Fussball zu verdienen?
Nein. Das Spiel war wichtiger als alles andere, ich dachte nicht ans Geld. Daran hat sich nicht viel geändert. Heute habe ich zwar einen sehr schönen Lohn, aber das ist nicht der entscheidende Faktor, warum ich Fussballer sein will. An erster Stelle steht das Vergnügen, die Lust, mit Kollegen auf dem Platz zu stehen und Erfolg zu haben. Das macht mich glücklich.

Du bist seit 2017 in Bern. Wohin soll Dich die Reise in Deiner Karriere noch führen?
Es gibt schon Wünsche und Pläne, aber die behalte ich für mich. Die Schweiz ist wunderbar und ich fühle mich bei YB sehr wohl. Dennoch gehe ich nicht davon aus, dass es das letzte Land sein wird, in dem ich als Profi tätig sein werde. Ich möchte keine Tür zuschlagen, hoffe aber auch, dass sich die ideale öffnen wird.

Für YB hast Du 55 Tore erzielt. Eines wirst Du bestimmt nie vergessen.
Wie könnte ich! (Er strahlt) Der 28. April 2018! Das ist ein unvergessliches Datum, mit dem ich wahnsinnige Emotionen verbinde. Wir haben das Meisterbuch aus dieser Saison daheim. Manchmal blättern wir darin, und dann wird mir wieder bewusst, was damals abgegangen ist. Unglaublich! Wunderschön!

In dieser Saison führst Du mit 18 Treffern die Torschützenliste an. Wie erklärst Du Dir diesen Lauf?
Ich habe das Glück, starke Mitspieler um mich herum zu haben. Von ihren Vorlagen profitiere ich extrem. Natürlich versuche ich, mich in entsprechende Position zu bringen. Je öfter ich treffe, desto grösser wird auch das Selbstvertrauen.


Nsame feiert mit Aebischer einen seiner 18 Saisontreffer.

Holst Du Dir immer noch Ratschläge von Steve von Bergen?
Das kommt vor. Als ich von Servette zu YB kam, half er mir vom ersten Tag an. Eine kleine Geste, ein Wort zwischendurch - er war eine wichtige Bezugsperson, auf deren Meinung ich viel Wert legte. Steve ist auch nach seinem Rücktritt wichtig geblieben. Er kann mir aufzeigen, wie ich Verteidiger noch mehr in Schwierigkeiten bringen kann, welche Laufwege ich wählen soll. Die Idee war es, mit ihm solche Themen anhand von Videosequenzen zu analysieren. Aber dann kam der Unterbruch wegen des Coronavirus. Wir holen das sicher nach.

Du gehörst zur frankophonen Fraktion bei YB. Wie steht es um Dein Deutsch?
Ich verstehe Berndeutsch besser als Hochdeutsch. Wenn der Trainer etwas auf Schweizerdeutsch sagt, verstehe ich das Wichtigste. Mehr Mühe habe ich, darauf eine Antwort zu geben in ihrer Sprache. Ich versuche aber, mein Deutsch zu verbessern.

Du sprichst auch Spanisch.
Si, claro!

Und Du hast diese Sprache im Eigenstudium gelernt.
Ich hatte Lust darauf, weil sie mir einfach gut gefällt. Nach sechs Monaten konnte ich mich auf Spanisch gut unterhalten, bei Servette zum Beispiel mit dem ehemaligen YB-Spieler Matias Vitkieviez oder Trainer Meho Kodro. Ich mag die spanische Sprache, das Land, die Mentalität der Leute. Ausserdem spreche ich ein bisschen Italienisch und Portugiesisch.


Vor dem Tor zeigt er keine Nerven: Jean-Pierre Nsame bezwingt FCZ-Goalie Yanick Brecher.

Zum Ausklang des Gesprächs musst Du Dich dreimal entscheiden: Old Trafford oder Santiago Bernabeu?
Beide. Ich hatte die Gelegenheit, mit YB im Old Trafford zu spielen. Und Santiago Bernabeu ist die Heimat von Real Madrid, meinem Lieblingsverein - neben YB, natürlich (lacht).

Buch oder Film?
Eher Film, ich mag vor allem Dokumentarfilme. Aber natürlich lese ich auch.

Süss oder salzig?
Süss. Aber während der Saison verzichte ich komplett darauf, ich schaue die Schokolade höchstens an, esse sie aber nicht. Zum Dessert gibts Früchte. Ich achte auf gesunde Ernährung und gönne mir nur in den Ferien einmal etwas Süsses.

Douala oder Paris?
Paris. In Douala kam ich zwar zur Welt, aber die Stadt kenne ich nicht. In Paris kenne ich mich aus, ich bin fünf Minuten vom Stade de France in St-Denis aufgewachsen. Mein Bruder und ich redeten oft darüber, wie es wäre, einmal in diesem Stadion spielen zu können. Er war ein starker Fussballer, hörte aber auf, weil er oft verletzt war. Vielleicht wird er mich eines Tages sehen können, wenn ich im Stade de France spiele...

[pd][sst]
 


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